Montag, 12. Juli 2010

Sachen gibts...

Prolog:

Eines Tages im April ging ich morgens in den Hof, um mein Fahrrad zu holen, um gemeinsam mit diesem Richtung Shibuya zu radeln. Doch irgendwie fehlte beim Blick in den Hof etwas. Irgendetwas war anders. Aber was? Da kam es mir: da stand nämlich kein Fahrrad. Also zumindest nicht das, was bisher mir gehörte. "Das geht aber doch nicht. Wir sind doch in Japan. Japan ist sicher. In Japan wird nichts geklaut (mal abgesehen von meiner neu erstandenen Winterjacke, dir mir am Abend des Erstehungstages im Club geklaut wurde). Wo ist also dieses Fahrrad?" Ein ominös-verdächtiger Zettel klebte am Sattel des Fahrrads, neben das ich meines am Abend zuvor gestellt hatte...soweit ich mich erinnern konnte.
Ein Wochendende der Hoffnung, dass es sich vielleicht doch nur jemand "ausgeliehen" hat, mir eine Nachricht auf dem Zettel auf dem Nachbarfahrrad hinterlassen hat und es mir wieder zurückbringen wird, verging, bis ich doch einsehen musste, dass das wohl tendenziell eher unwahrscheinlich ist.

Ich ging also zum Koban. Kobans gibt es in jedem Viertel. Mindestens einen, meistens mehr. Meist sind die Häuschen sehr klein. Meist total runtergekommen. Mit vergilbten Wänden und Möbeln. Meist fragt man, obwohl Koban offiziell Polizei ist, doch nur nach dem Weg, weil das Tokyoter Adressensystem selbst für Tokyoter schwer zu verstehen ist. Und deshalb sehen die Koban-Leute auch meist eher gelangweilt, als aktiv aus. Zurecht. Wie gut, dass ich ihnen mit einem Diebstahl frischen Wind in den tristen Arbeitsalltag bringen werde, dachte ich, bis ich auf meine Frage, wie wahrscheinlich es denn wäre, aufgrund des strengen Tokyoter Fahrradregistriersystems mein Fahrrad wieder zurückzubekommen die Antwort: "Najaaaa, ehrlich gesagt eher gering, Fahrräder werden oft geklaut." bekam. Naja. Egal, ich füllte trotzdem Formulare aus und drückte meinen Zeigefinger wie ein Schwerverbrecher auf ein Stempelkissen und anschließend auf das Formular, um meine Angaben zu verifizieren.

Es verging viel Zeit.

Ich lieh mir das sportliche Fahrrad meiner Schwester.
Ich vermisste mein eigenes.
Ich durchstöberte Internetportale mit Gebrachtfahrrädern. Alle Schrott. Oder schon verkauft.
Ich durchstöberte Fahrradläden, aber ich hatte schon einmal viel Geld für ein neues und nicht unbedingt qualitativ herausragendes Rad bezahlt, also viel es mir schwer, das noch einmal zu tun (denn wenig kosten die dennoch nicht).
Schließlich ging ich desillusioniert in einen Gebrauchtwarenladen und kaufte eine alte Mühle für wenig, aber wahrscheinlich immer noch zu viel Geld und freute mich, dass es zumindest eine Gangschaltung hatte.
Dann kam der Segen aus Deutschland und hatte Zeit und Lust Fahrräder zu kaufen und ging an einem Montag Morgen zu einem der Fahrradsammelplätze, wo Fahrräder verkauft werden, die sie eingesammelt haben, danach aber von ihren Besitzern nicht abgeholt wurden.
Danach hatte ich ein eigenes Sportfahrrad und konnte der Schwester das Ihrige wieder zurückgeben.
Aber ich vermisste den Korb an meinem Alten zum Einkaufen.
Die alte Mühle verlieh ich an meinen Nachbarin.

Bis Samstag.

Gestern ging ich mit der Schwester Kaffee trinken. Als wir zurück wollten, erhielt ich einen Anruf der mir sagte: "Kannst du noch eine Dose Tomaten mitbringen?" Konnte ich. Aber dafür musste ich zu einem Supermarkt, den es auf dem Weg zu meiner Wohnung nicht gab. Wir mussten also kurz in die andere Richtung laufen, denn da gab es einen Supermarkt. Ich kaufte Tomaten und wir verließen den Laden. Da erblickte ich in einem der sauteuren Bezahlfahrradständer das Modell des Fahrrads, das ich auch mal besaß, an das ich mich aber nur noch schemenhaft erinnern konnte, aber nach dem ich instinktiv doch immer wieder schaute, wenn ich es erblickte.

Kurze Auflistung der Gedanken, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen:
"Hach, kuck mal. Sieht aus wie mein Rad.,,,,,Mooooch, mein Rad, jaaaa...das war schön damals als wir gemeinsam durch den Großstadtdschungel ritten....Verdächtig hoher Sattel....Verdächtig hoher Lenker....Sehr unjapanisch.......und hahaha, witzig, so einen grünen Aufkleber von der Hausverwaltung, den hatte ich auch mal.....Damals, als ich noch Besitzer von so einem Fahrrad war.....das ist komisch...der Aufkleber ist genauso verknickt, wie meiner damals.....verdammt....DAS IST MEIN RAD" So oder so ähnlich.

Hui, wie aufregend, was mach ich denn jetzt? "Schwester, das ist mein Rad" - "Was? Echt?" - "Ja" - "Krass und jetzt?" -  "Weiß nicht?!" - "Du musst zum Koban, schnell, am End kommt der Dieb wieder und ist nur kurz einkaufen" Daraufhin lief ich ein wenig aufgescheuchtes Huhn-mäßig umher, versuchte die Telefonnummer des nächstgelegenen Koban herauszubekommen, um schließlich doch einfach hinzulaufen, während meine Schwester tollkühn und todesmutig beim Fahrrad blieb, um es zu beschützen.

Als ich dort angekommen war, versuchte dem dort sitzenden und gerade mit Wegbeschreibungen beschäftigten jungen Mann mit schlechtem Japanisch zu erklären, was sich gerade zugetragen hatte. Der junge Mann wechselte seinen Gesichtsausdruck von ungläubig dreinguckend zu "die Alte spinnt doch", erklärte sich aber schließlich bereit, mit mir gemeinsam zum Ort des Verbrechens zu gehen. Bis dahin hatte er ellenlange Salven von unverständlichem und extrem schnellen Japanisch über mich ergossen, von dem ich geschätzte 2,3% verstanden habe. Es ist immer wieder schön, sich dumm zu fühlen.

Egal, wir erreichten das Fahrrad und die Schwester und diese übernahm glücklicherweise die folgende Konversation. Oder vielleicht eher die folgenden Konversationen. Denn die Sache stellte sich als lange und umständlich heraus. Als erstes versuchte mich der Polizist davon zu überzeugen, dass ich doch das Formular bräuchte, dass ich damals bekommen habe, als ich es registirieren hatte lassen. Das hatte ich natürlich nicht dabei. Wieso auch. Wenn sie einen nachts vom Fahrrad holen und kontrollieren, ob dieses auch wirklich auf dich angemeldet ist, brauchen sie das auch nicht, da nehmen sie deinen Ausweis und rufen irgendwo an und die sagen dann: "Das gehört einer raura kuma" und dann schauen sie auf deinen Ausweis und stellen fest, dass du das bist und dann darfst du weiterfahren. Aber jetzt war dieses Formular plötzlich ungedingt und dringend notwendig. Naja. 

Er rief dann doch irgendwann bei dieser Zentrale an und meine Schwester teilte mir derweil mit, dass sich die Kosten für den Fahrradständer mittlerweile auf 18.000 Yen belaufen hätten, weswegen die Wahrscheinlichkeit, dass der Fahrraddieb von einem kurzen Einkauf zurückkommen könnte ziemlich gegen null ging.
Da legte er auf und sagte: "Ja, also, das ist tatsächlich ihr Fahrrad". Ach was. Daraufhin meine Schwester: "Ja und jetzt? Das hat sich ja mittlerweile auf 18.000 Yen belaufen" Er: "Also ich kann Ihnen da ja jetzt nicht weiterhelfen, ich bin ja nicht von der Fahrradständerfirma. Aber am besten kommen Sie jetzt mit in meine Schrottbude (gut, das hat er natürlich nicht gesagt) um die Diebstahlmeldung rückgängig zu machen". Meine Schwester: "Ja und dann? Dann zahlen wir 18.000Yen? Das Fahrrad selbst hat doch nur 25.000Yen gekostet!" Er: "Ja, da kann ich Ihnen jetzt auch nicht helfen" Schwester: "Also gut, dann ruf ICH jetzt die Fahrradständerfirma an und frage die, was man da machen kann. Aber Sie müssen schon da bleiben und das Ganze bestätigen, sonst glauben die mir doch nicht" (Die Nummer stand in großen roten Zahlen auf weißem Grund über dem Bezahlautomaten. Warum Herr Koban nicht selbst dazu in der Lage war darauf zu kommen, diese zu wählen und den Sachverhalt zu erläutern, fragte ich mich während ich das mittlerweile quengelnde Kind schaukelte. Was ich ohne meine Schwester gemacht hätte, fragte ich mich auch, denn das Tempo und die Wortwahl des Kobanmannes hatte sich nicht im geringsten an mein Niveau angepasst. Und in genau diesem Tempo und mit dieser Wortwahl teilte er uns dann mit, nachdem er es geschafft hatte, der Firma zu bestätigen, dass wir uns das alles nicht ausgedacht haben, weil wir eigentlich nur 18.000 Yen "Zeche prellen" wollen, dass wir jetzt 20-30 Minuten warten müssten, bis ein Mitarbeiter käme, um das Fahrrad freizuschalten.

Daheim blubberte seit Stunden die Bolognese im Topf (zum Glück ist das dieser Soße sogar zuträglich, aber es fehlte die Dose Tomaten, die sich da auch noch gerne mit eingekocht hätte, denn die war ja noch in meiner Tasche), ich musste seit dem Verlassen des Cafés auf's Klo und die Ganze Prozedur zog sich aufgrund des nicht unbedingt fähig wirkenden Polizeibeamten schon seit einiger Weile hin. 

Aber es ging ja um mein Fahrrad.

Und daher warteten wir und wurden mit einem sehr schnell eintreffenden Mitarbeiter belohnt.

Was dann kam:
Ich nahm das Fahrrad vorn und schob. Mein Freund, der Kobanmann hielt hinten hoch und schob auch, irgendwann schnaubte und atmete er laut, denn zur körperlichen Fitness trägt das Weg-Erklären wohl nicht unbedingt bei.
Er redete schnell und unverständlich auf mich ein. Ich tat so, als würde ich ihn verstehen, verwünschte ihn aber innerlich.
Im Koban angekommen waren plötzlich drei weitere Beamten da, die ganz aufgeregt und angetan ob dieser interessanten Abwechslung waren, denn nach dem Weg zu Restaurants fragende Quiekjapanerinnen wurden sogar kurz vertröstet.
Wir wurden auf Klappstühle gesetzt und zum Warten verdonnert.
Eine Ausländerin fand diesen Anblick wohl so absonderlich, dass sie dachte, wir wären in Schwierigkeiten. Sie kam daher kurz hinein und fragte uns ob alles ok sei und ob sie für uns übersetzen solle. Nachdem wir dankend ablehnten, stellte sie noch kurz eine äußerst dumme Wegbeschreibungsfrage ("Wo ist der Okubo Bahnhof.......ahh, einfach geradeaus, danke") und ging dann weiter ihres Weges.
Der unfähige Kobanbeamte kam mit fünf Formularen wieder, von denen keines zu passen schien (dieser Fall scheint wohl eher selten vorzukommen), von denen er keines ausfüllte, sondern nur draufstarrte bis einer der drei anderen mit weiteren drei möglichen anderen Formularen kam. 
Der unfähige Kobanbeamte entschied, erstmal irgendwo viel herumzutelefonieren, um herauszubekommen, welches der nicht passenden Formulare am wenigsten nicht passend ist.
Der älteste und fähigst wirkende Kobanbeamte wollte wissen, ob wir einen Schlüssel hätten und nachdem wir verneinten, erhellte sich seine Miene bei folgender Frage: "Darf ich das Schloss aufbrechen" - "Oh ja bitte".
Er verschwand daraufhin und kam kurze Zeit darauf mit zwei Schraubenschlüsseln, einem Brecheisen und einem großen Hammer sowie einem noch zufriedeneren Gesichtsausdruck zurück und machte sich sofort ans Werk.
Der unfähige Kobanbeamte blätterte derweilen noch immer in nicht passenden Formularen und telefonierte ab und an mal.
Die zwei anderen Beamten standen geschäftig nichtstuend herum und unterbrachen die Warterei hie und da mal mit der Frage, ob das Fax schon piii piii gemacht hätte. 
(Das sollte wohl heißen, ob ein Fax schon angekommen sei. Wir erfuhren, dass sie das Fax aus dem Koban erwarteten, in dem ich das Rad als gestohlen gemeldet hatte. Dieser Koban ist wohlgemerkt nicht mal am anderen Ende der Straße. Aber wenn schon mal was los ist, kann man die Chance auch gleich mal nützen und das Fax mal wieder in Betrieb nehmen).
Von draußen vernahmen wir Hämmern, Klopfen und Geräusche von splitterndem Metall.
Das Kind quengelte.
Der unfähige Kobanbeamte blätterte.
Meine Blase drückte.
Das Schloss zerspang in Einzelteile, das Fahrrad war befreit.

Da.
Endlich.
Ein Anruf hatte dem unfähigen Kobanbeamten offensichtlich Aufschluss gebracht.

Er füllte plötzlich eines der Formulare aus. Aber natürlich langsam und mit äußerster Bedacht. Ich musste dann auch noch etwas eintragen. Natürlich in mir unbekannten Kanjis, was natürlich zu einem Schreibfehler fühlte, was wiederum dazu führte, dass ich alles noch einmal schreiben musste, weil Ordnung muss sein. 

Und dann - juhu - wurde mir ein Stempelkissen hingestellt und ich musste wieder mit Fingerabdrücken verifizieren. Dann strich der unfähige Kobanbeamte noch einiges auf dem Formular durch, weil es passte ja nicht so richtig, und diese Durchstreichungen musste ich ebenfalls mit meinem Fingerabdruck bedrucken. Ich wurde schon etwas übermütig und stempelte wild drauf los und entging nur knapp dem "alles noch einmal neu machen, weil Ordnung muss sein", aber ich hatte Glück. Das Papier war schwarz gepunktet. Lesen konnte man nicht mehr viel, aber ich hatte endlich auch ein bisschen Spaß gehabt (denn zu diesem Zeitpunkt waren undgefähr zwei Stunden vergangen). Und sämtliche Kobanbeamte, sogar auch der Unfähige, schienen sehr glücklich zu sein, denn ENDLICH war mal was los. Auch wenn der ein oder andere ein wenig überfordert zu sein schien mit diesem seltenen Kriminalfall.

Schluss: 

Ich bin jetzt auch glücklich. Ich besitze jetzt nämlich drei Räder.

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